Thursday, February 09, 2017

Habermas on Fritz Stern

Jürgen Habermas spoke at a memorial colloquium for the German historian Fritz Stern (1926-2016) in Berlin, February 2, 2017. See my post on the event here.

Habermas's speech is published in "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (February 8, 2017):

"Globalisierung der Diltheyschen Provinz"
[not yet available online]

Excerpts

"Als wir uns 1967 kennenlernten, war mir die Dissertation über den „Kulturpessimismus als Gefahr“ unbekannt; aber ich hatte „The Varieties of History“ gelesen – eine ungewöhnliche Sammlung von Texten, die Stern 1956 herausgegeben und mit einer substantiellen, im Hinblick auf seine ganze Existenz aufschlussreichen Einleitung versehen hatte. Die Auswahl versammelt Reflexionen bedeutender Historiker aus zwei Jahrhunderten, die über ihr akademisches Handwerk und den Sinn ihrer Disziplin nachdenken. Dieses philosophische Geschäft der Historik, also des Nachdenkens über die Ziele und Methoden von Geschichtsschreibung und historischer Forschung konnte zwar mit Johann Gustav Droysen und Wilhelm Dilthey zwei bedeutende Vertreter vorweisen, war aber damals in den Vereinigten Staaten ein eher idiosynkratisches, eben sehr deutsches Genre.

Interessant ist nicht nur die Tatsache, dass sich der dreißigjährige Fritz Stern auf unkonventionelle Weise mit diesem Thema befasst, sondern wie intensiv er sich in der langen Einleitung damit auseinandergesetzt hat. Diese liest sich rückblickend wie ein Programm zu dem, was aus Stern geworden ist: ein bedeutender Historiker mit einem in der persönlichen Lebensgeschichte verwurzelten Thema, das anklingt und von dem er zehrt, wenn er als Geschichtsschreiber politisch aufklärende Werke verfasst oder als amerikanischer Bürger und öffentlicher Intellektueller in dem Land, aus dem er vertrieben worden ist, eine politisch aufklärende Rolle spielt. Vielleicht ist das der Grund, warum Stern die „Varieties of History“ im Vorwort der zusammen mit Jürgen Osterhammel erweiterten Neuausgabe (München 2011) sein „Lieblingsbuch“ nennt.

Die philosophische Einleitung des jungen Historikers beginnt mit einem Blick auf die Ausdifferenzierung der Geschichte zu einer wissenschaftlichen Disziplin im Zeitalter der Aufklärung. Von Anbeginn zeichnen sich, wie Stern beobachtet, zwei widerstreitende Tendenzen ab: Einerseits etabliert sich die Geschichte als ein akademisches Fach; aber gleichzeitig entsteht das Bedürfnis einer zunehmend säkularen Gesellschaft, sich durch historische Selbstvergewisserung im Handeln zu orientieren. Kurzum, „als der Historiker sich gerade anschickte, ein akademischer Mönch zu werden, der sich mit seinen Quellen im Studierzimmer einschließt, wollte ihn seine Umwelt als Prediger haben“. Die Auswahl beginnt nicht zufällig mit Texten von Voltaire, denn Stern glaubte offensichtlich – es waren die fünfziger Jahre –, seine eigene liberale Gesinnung im Entstehungskontext des Faches selbst verankern zu können: „In ihrer betont modernen Form wuchs und blühte die Historie in einem Jahrhundert, das sich der Vernunft, der Wissenschaft und der Freiheit gewidmet hatte. Die Arbeit des Historikers stützte diese Ideen und wurde umgekehrt von ihnen gestärkt.“

Stern greift sogar hinter das achtzehnte Jahrhundert auf anthropologische Wurzeln zurück. Er ist überzeugt, dass das Interesse an Geschichte „der kognitive Ausdruck“ eines tief verwurzelten menschlichen Bedürfnisses ist, das sich spontan „mit der Geburt jedes Kindes“ regeneriere. Daher entsteht mit der Institutionalisierung des Faches eine Spannung zwischen der Spezialisierung der Forschung einerseits und der „Nähe zum Leben“ andererseits, zu der der Historiker in seiner Rolle als Geschichtsschreiber Kontakt halten soll. Diesen Antagonismus verfolgt der Autor über zweihundert Jahre. Im Gegeneinander der Verwissenschaftlichung der Disziplin und des Wunschs nach Aufklärung des Publikums entdeckt er „die Wechselwirkung zwischen den feststehenden Elementen der Geschichte – der kritischen Methode und der Quellen – und den zeitgebundenen Elementen, die in der Person des Historikers verkörpert sind“.

Damit nahm er übrigens der Gadamerschen Hermeneutik die wichtige Einsicht vorweg, dass sich der Historiker seinem Gegenstand nicht aus der Vogelperspektive nähern kann, sondern nur aus dem Horizont des eigenen Vorverständnisses. Dieses situationsabhängige Vorverständnis erklärt den eigentümlichen Modus des Veraltens oder Überlebens, das heißt Klassischwerdens geisteswissenschaftlicher Werke. Freilich kann und soll der Historiker versuchen, sich dieses Vorverständnis durch Reflexion bewusst zu machen: „Die Person des Historikers ist von Anfang bis zum Ende in sein Werk hineingewoben, und je mehr er sich dessen bewusst ist, desto klüger kann er seine Entscheidung treffen.“

Man kann die Autobiographie von Fritz Stern als eine solche selbstkritische Bewusstmachung der eigenen lebensgeschichtlichen Motive für die Wahl der Themen und für die Hintergrundprämissen seiner historischen Arbeiten verstehen. Das gilt sowohl im Hinblick auf seine Forschungen zum Ersten Weltkrieg und zur Weimarer Republik wie hinsichtlich seiner darstellenden Werke über die deutsch-jüdische Beziehung zwischen Bismarck und dem Bankier Bleichröder oder über die ideologischen Wurzeln des Nationalsozialismus.

In seinen „Erinnerungen“ legt der Historiker nicht nur Rechenschaft über ein Lebensthema ab, das für ihn zur wissenschaftlichen Herausforderung geworden ist. Das Thema war gleichzeitig eine politische Herausforderung für den Bürger und Intellektuellen. Als Amerikaner hat er im Land seiner Herkunft die für den kritischen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit wichtige Rolle übernommen. Für uns war Fritz Stern ein Kompass, der in die richtige Richtung gewiesen hat. Aber in dem Spiegel, den er der Bundesrepublik vorgehalten hat, konnte sich jeder von uns auch blamieren – Fritz Stern hat den liberalen und den kooperativen Geist ermutigt und nicht dazu, uns in die Brust zu werfen."

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