Monday, November 02, 2009

Peter Sloterdijk's "Manifesto"

The German magazine "Cicero - Magazin für politische Kultur" November 2009 features an extensive essay by Peter Sloterdijk, entitled "Aufbruch der Leistungsträger" (pp. 95-107).

The essay is both a contribution to the ongoing Sloterdijk/Honneth debate on the relation between the so-called "productive" and "unproductive" citizens in the German welfare society (see here and here) and a comment on the results of the German elections on September 27.

"Cicero" characterizes Sloterdijk's essay as a "bürgerliche Manifest" - "ein Manifest zum neuen Zeitgeist, ein Plädoyer für Freiheitswind in Deutschland".

Excerpts (the headings are mine):

(1) The need for a political-psychological reformation.

"Von einem Ende zum anderen ist unsere Alltagskultur von den Figuren und Affekten der Mangelrhetorik durchdrungen. (.....) An allen Ecken und Enden spricht man nur noch vom Fehlen, vom Brauchen, vom Nicht-Haben und vom Beantragen. (.....) Wie keine Generation zuvor sind wir therapeutisiert, kulpabilisiert, miserabilisiert und auf Defizitgefühle dressiert. (.....). Für die komplementäre Dimension des menschlichen Seelenlebens, den Stolz, die Ehre, die Großzügigkeit, das Haben und Schenken, für die ganze Skala der gebenden Tugenden, die zum kompletten thymotischen Leben gehören, haben wir praktisch kein Empfinden mehr, und mit dem fehlrenden Empfinden ist auch die dazugehörige Sprache ausgestorben. (.....) Vor diesem Hintergrund lässt sich begreiflich machen, warum der westlichen Zivilisation im Allgemeinen und der deutsche Kultur im Besonderen auf mittelfristige Sicht nur noch durch eine Art politisch-psychologischer Reformation zu helfen sind. Könnte es sein, dass wir am Anfang einer solchen stehen?" (p. 96-97)

(2) The need for a new social contract.

"Der durch sein Fiskalprivileg ermächtigte Umverteilungsstaat aktuellen Typs verkörpert essenziell eine krypto-semi-sozialistische Struktur. (.....) Um aber den fiskalisch basierten Semisozialismus in seiner Eigenart zu begreifen, muss man zwei Dinge stets in Betracht ziehen: zum einen, dass seine Existenz von allen Akteuren strikt geleugnet wird.... Zum anderen ist für den realen Semisozialismus bezeichnend, dass er bisher ausschlißlich in nationalstaatlichen Formen praktizierbar war. (.....) Dieses System stößt seit einer Weile an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. In Zeiten erhöhter Migration, intensiverer Zuwanderung, zunehmender Elitenabwanderung und demografischer Ausdünnung macht der moderne Staat die irritierende Entdeckung, dass es mit der sozialnationalen Synthese allein auf Dauer nicht mehr getan ist. Seither lautet die Aufgabe für den Staat, der sich und seine Populationen reproduzieren will: Es gilt, eine Integrationsformel höherer Stufe zu finden, kraft welcher eine zunehmend heterogene Staats-
bevölkerung als Leistungsträgergemeinschaft jenseits der divergierenden Herkunftskulturen bestimmt wird. Diese Formel kann nur durch einen neuen "Gesellschaftsvertrag" zustande kommen, der die Leistungsträger aller beteiligten Seiten in die Mitte der sozialen Synthesis rückt." (p. 100-101)


(3) The "class" conflict between the Liberal Party (FDP) and the Left.

"Dass beide Volksparteien große Verlierer sind, wurde vielfach gesagt und wird auch durch Wiederholungen nicht falsch. Was die klaren Gewinner angeht, die Liberalen und die Linke, so bedeuten die Zuwächse, die sie erfahren haben, auf den ersten Blick nichts anderes als praktizierte Normalität. Nichts ist normaler und demokratischer als die Tatsache, dass sich bei Wahlen Interessen in Präferenzen übersetzen. Bemerkenswert ist aber, dass es in Deutschland zur Stunde offenbar nur zwei Gruppierungen gibt, die durch ihre prägnanten Interessen zu klaren Wahlentscheidungen motiviert sind, eben die Wähler der Linken und der FDP (.....)" (p. 104)
"Auf den zweiten Blick taucht hinter der Plausibilität des deutschen Wählerverhaltens eine stark veränderte Konfliktlandschaft auf. Die Antithese zwischen der Linken und den Liberalen ist überaus bedeutungsvoll, um nicht zu sagen zukunftsentscheidend, weil sich in ihr eine bisher systematisch verschleierte Polarisierung der Gesellschaft in nie zuvor gesehener Klarheit artikuliert. Zum ersten Mal in der Geschichte der neueren deutschen Demokratie treten sich in den Gewinnern des 27. September zwei Gruppen gegenüber, die man so noch nicht miteinander konfrontiert sah. Man möchte fast an einen "Klassen"gegensatz unbekannten Typs glauben, der bisher nicht bis zur offenen Kollision herangereift war. (.....) An der neuen politischen Front stoßen (.....) zwei finanzpolitische Großgruppen aufeinander: hier die Transfermassengeber, die aufgrund von unumgehbaren Steuerpflichten die Kassen füllen, dort die Transfermassennehmer, die aufgrund von sozialpolitisch festgelegten Rechtsansprüchen die Kassen leeren." (p. 104)

(4) The task for the Liberal Party (FDP).

"Die Liberalen haben zugleich die einfachste und die schwierigste Aufgabe vor sich. (.....) Es ist ihre objektive Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Leistungsträgerkern der deutschen Population sich in Zukunft nicht nur fiskalisch stark mitgenommen fühlt, sondern sich endlich auch politisch, sozial und kulturell gewürdigt weiß. Es geht darum, eine neue Semantik zu schaffen, die die Leistungsträgern als Gebern Genugtuung verschafft. Eine solche Semantik setzt den Bruch mit der Mangelpflege voraus, die verlangt eine Hinwendung zu einer wiedererwachenden Stolzkultur. Dazu gehört, dass man Freiheitsmotive wieder höher veranschlagt: Es entspräche liberaler Tradition, sich zu weigern, das Interesse an Sicherheit bis zum Erbärmlichkeit voranzutreiben." (p. 107)

(5) The Social Democratic Party (SPD) has to change its strategy.

"Die sozialdemokratische Partei steht vor einer Entscheidung, bei der sie in ihren internen Abgrund schaut. (.....) Möchte die SPD für den unentbehrlichen Leistungsträgerkern der Gesellschaft wieder attraktiv werden, so kann sie das nur, wenn sie unmissverständlich klarmacht: Sie will an erster Stelle den berechtigten Stolz der Berufstätigen, der Steueraktiven und der sozial Mitfühlende artikulieren; nur in zweiter Linie darf sie dabei mitwirken, der Wut der Arbeitslosen zu ihrem Recht zu verhelfen und die Entmutigung der Ausgemusterten zu kompensieren."


Peter Sloterdijk is Professor of Philosophy and Aesthetics at the Karlsruhe School of Design. His latest book is "Du mußt dein Leben ändern" (Suhrkamp Verlag, 2009). Interview with Sloterdijk on his book here.

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